Fahrschein zu verschenken

Psychiatriepatienten spielen in der Kulturfabrik Theater

"Beim Schaukeln, da kann man was erleben!" Was manche erst noch lernen müssen, weiß Reinhard Schmidt schon lange.
Vor und zurück schaukeln oder hin und her schunkeln, mal sachte-verhalten beim Warten auf die Straßenbahn oder auch mal vergnügt und heftiger beim Sitzen in derselben: Das ist einfach und macht Spaß. Mit Disco-Musik wäre es natürlich noch viel schöner, aber im "normalen" Leben, zum Beispiel in öffentlichen Transportmitteln, hört man eben nur Straßengeräusche und das Brummen des Getriebes. Selbst wer einen Walkman trägt, schaukelt deshalb noch lange nicht. Schade eigentlich.
In der "AuE-Kreativschule", die Menschen aus dem Langzeitbereich einer Großpsychiatrie bei Hannover A wie Ausdruck und E wie Erleben in kreativen Medien anbietet, gibt es neben dem Theater-, Kunst- und Musikbereich auch eine Schreibgruppe
In der hat der Autor Reinhard Schmid nun eine Geschichte verfaßt. Unter der sanften Leitung von Jörn Waßmund ist daraus "Schaukeln - Theaterprojekt über eine außergewöhnliche Fahrt mit der Straßenbahn" entstanden. Das so schlicht komische wie leichtfüßig kluge Stück war nun in der Löseke-Kulturfabrik in Hildesheim zu sehen - aufgeführt ebenfalls von Psychiatrie-Patienten.
Zehn weiße Stühle, paarweise hintereinander angeordnet, bieten nach und nach Platz für neun Männer und eine Frau. Für die ist Straßenbahnfahren nicht bloß, wie für die meisten, Mittel zum Zweck, sondern reiner Selbstzweck.
von Schaukelmissionar Reinhard Schmidt. Ein Förster mit seinem Stoffhund Susi, ein müder Lastwagen-Fahrer, ein verschlossener Friseur, ein alter verschmitzter Musiker, zwei Schaffner und zwei betrunkene Kontrolleure, die auch mal locker Fahrscheine verschenken.
Und natürlich die dralle Hip.Hop-Diva, die so beschwingt durchs Leben tänzelt, dass es bald gar keinen Passagier auf den Stühlen hält. Zeigt sich beim Fahren ein Kiosk oder ein See, heißt es selbstverständlich: Aussteigen, Cola trinken und Schwäne füttern! Liegt eine Flöte am Wegesrand, wird natürlich musiziert: "So ein Tag so wunderschön wie heute".
Auf das Heute, das Jetzt, kommt es eben an. Das Schaukeln selbst ist dafür die sinnige Metapher. Denn zwischen Vor und Zurück, zwischen Morgen und Gestern liegt schließlich die Gegenwart. Die bleibt hier einmal nicht auf der Strecke. Alles dauert so lange, wie es eben dauert. Dann wird weiter gefahren und am Ende ist keiner zurück geblieben.
Ein tolles, geistesgegenwärtiges Stück Theater.

Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 16.1.2001

(la)